Genesen und trotzdem chronisch krank |
Bisher ist noch nicht im Detail klar, welche Krankheitsprozesse für die Langzeitfolgen nach einer SARS-CoV-2-Infektion verantwortlich sind. Wissenschaftler konnten jedoch mehrere Mechanismen identifizieren, die dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Rolle spielen. Zumindest bei einem Teil der Betroffenen wurden mehr als sechs Monate nach der Infektion noch Virusbestandteile in Organen nachgewiesen, zum Beispiel in den Atemwegen oder dem Verdauungstrakt. Sie könnten die Auslöser für eine anhaltende, überschießende Aktivierung des Immunsystems sein, die Entzündungsreaktionen fördert. Bemerkbar macht sich das bei Long-Covid-Patienten durch erhöhte Spiegel von Entzündungsmarkern wie Interferonen und Interleukinen im Blut.
Werden die entzündlichen Prozesse nicht – wie bei einer normalen Immunreaktion – wieder herunterreguliert, kann das das Gewebe schädigen. In der Lunge zum Beispiel wird dadurch der Gasaustausch beeinträchtigt, was Atembeschwerden und Luftnot erklärt. Auch das Herz kann durch Entzündungsreaktionen in Mitleidenschaft gezogen werden und mit einer reduzierten Pumpleistung oder erhöhtem Puls reagieren. Die krankhaften Gewebeveränderungen bilden sich jedoch mit der Genesung fast immer zurück.
Entzündungsreaktionen an den Innenwänden der Blutgefäße gelten zudem als Verursacher einer sogenannten endothelialen Dysfunktion. Die Adern sind dann weniger elastisch, die Durchblutung leidet und es bilden sich leichter winzige Blutgerinnsel (Mikrothromben), die die Kapillaren verstopfen können. Eine solche Funktionsstörung der Gefäßwände fand sich in Studien bei etwa einem Drittel der Patienten mit Long Covid. Die beeinträchtigte Blutversorgung in den kleinsten Gefäßen machen Forscher zum Beispiel für Störungen des Nervensystems verantwortlich, die zu Kopfschmerzen, Konzentrations- und Gedächtnisproblemen führen können.
Möglicherweise trägt die Daueralarmierung des Abwehrsystems auch dazu bei, dass es nicht mehr nur gegen das Virus Antikörper produziert, sondern auch gegen eigene Zellen und Botenstoffe. Solche Autoantikörper sind bei vielen Menschen mit Long Covid nachweisbar. Sie gelten als Risikofaktoren für länger anhaltende Beschwerden und könnten auch ursächlich an deren Entstehung beteiligt sein. So fanden sich in Studien beispielsweise bei Patienten mit Gedächtnisproblemen und anderen neuronalen Problemen Antikörper gegen Nervenzellen in der Rückenmarksflüssigkeit (Liquor).
Mehrere Studien deuten zudem darauf hin, dass die Reaktivierung einer früheren EBV-Infektion ursächlich an der Entstehung von Long Covid beteiligt sein könnte. Weltweit tragen über 90 Prozent der Bevölkerung das Epstein-Barr-Virus in sich. In Stresssituationen, etwa durch eine andere Erkrankung, kann das schlummernde Virus »aufgeweckt«, also reaktiviert werden. Die Symptome ähneln denen von Long Covid: beispielsweise chronische Erschöpfung, Brain Fog, Kopfschmerzen. Tatsächlich konnten Forschende bei zwei von drei Long-Covid-Betroffenen eine EBV-Aktivierung nachweisen.
Die Diagnose von Long Covid folgt im Wesentlichen dem Ausschlussprinzip: Der Arzt muss sicherstellen, dass den Beschwerden keine andere Ursache zugrunde liegt – zum Beispiel Organschäden, eine Hormonstörung, Depression oder rheumatologische Erkrankung. Für das chronische Erschöpfungssyndrom ME/CFS kann er oder sie auf Kriterienkataloge zurückgreifen, die typische Symptome abfragen. Die Messung der Handkraft mit einem Dynamometer gibt Aufschluss über das Ausmaß der körperlichen Fatigue. Auch die Art und Schwere von Schmerzen und Alltagsbeeinträchtigungen lässt sich durch dafür konzipierte Fragebögen erfassen. Eine spezifische Untersuchung oder einen Laborwert, der Long Covid anzeigt, gibt es nicht. Im Einzelfall kann jedoch die Kontrolle bestimmter Blutparameter oder ein bildgebendes Verfahren sinnvoll sein. Bei neurologischen Symptomen wie Sprach-, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen empfiehlt die Long-Covid-Leitlinie eine gezielte Diagnostik in einem spezialisierten Zentrum.
Ebenso wie die Diagnose orientiert sich auch die Behandlung des Post-Covid-Syndroms vorwiegend an den Symptomen. Eine evidenzbasierte, also in wissenschaftlichen Studien hinreichend als wirksam erwiesene spezifische Therapie existiert bislang nicht. Viele Beschwerden lassen sich jedoch lindern. So werden bei Schmerzen Analgetika eingesetzt; bei Riechstörungen zeigte die Kombination von intranasalen Steroiden mit Riechtraining in Studien gute Erfolge. Bei anhaltendem Husten rät die Bundesärztekammer in ihrem Positionspapier beispielsweise zu einem Therapieversuch mit inhalativen Corticosteroiden und bronchienerweiternden Wirkstoffen wie Beta-2-Sympathomimetika. Acetylcystein wird bei Long Covid dagegen nicht empfohlen. Physikalische Maßnahmen wie eine Atemtherapie und Lungensport können dazu beitragen, die Leistungsfähigkeit zu verbessern.
Coronaviren lösten bereits 2002 eine Pandemie aus: SARS. Ende 2019 ist in der ostchinesischen Millionenstadt Wuhan eine weitere Variante aufgetreten: SARS-CoV-2, der Auslöser der neuen Lungenerkrankung Covid-19. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronaviren.