Verwirrung um die Reproduktionszahl |
Die Berechnung der Reproduktionszahl ist komplex – und verwirrend. Denn es gibt nicht nur eine. Und dann wird auch
noch an der Datenbasis geschraubt. (Symbolbild) / Foto: Adobe Stock/Coloures-Pic
Die augenblickliche Verwirrung um R ist gleich zwei Umständen zu verdanken: Zum einen hat das Robert-Koch-Institut (RKI) die Formel für die Schätzung von R im Detail verändert. Zum anderen gibt es zwei unterschiedliche Ansätze zur Berechnung, die zu sehr abweichenden Werten führen können.
Grundsätzlich ist die Reproduktionszahl R einer der zentralen Werte zur Beurteilung des Verlaufs einer Infektionswelle. Sie gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter in einem bestimmten Zeitraum im Durchschnitt ansteckt. Je niedriger R ist, desto besser. Liegt R unter 1, steckt ein Infizierter im Schnitt weniger als einen anderen Menschen an – und die Epidemie läuft aus. Liegt R über 1, steckt ein Infizierter im Mittel mehr als einen anderen Menschen an – die Zahl der täglichen Neuinfektionen wird größer. Das RKI hat immer wieder betont, um die Epidemie abflauen zu lassen, müsse diese Reproduktionszahl unter 1 liegen.
Laut dem RKI lag die Kennziffer Anfang März noch bei 3, in den vergangenen Tagen bei 0,9 bis 1, jeweils mit einer gewissen Schwankungsbreite. Nun aber hat die Behörde für Infektionskrankheiten an der Formel zur Ermittlung der Ansteckungsrate leichte Änderungen vorgenommen. R lag danach im RKI-Lagebericht vom Mittwoch nur noch bei 0,75 (Datenstand 29. April, 0.00 Uhr).
Das habe aber nichts mit der neuen Erhebungsgrundlage zu tun, beteuern RKI-Chef Lothar Wieler und ein extra herbeigerufener spezialisierter Mathematiker heute in einer Pressekonferenz zur Corona-Lage. Die Datenbasis für die Schätzung von R sei geändert worden, was den Kurvenverlauf zwar »glätte« und die Berechnung von R vereinfache. Im Ergebnis ändere sich aber nichts.
Die Berechnung der Reproduktionsrate ist wegen verschiedener Faktoren und Schätzungen komplex. Die unterschiedlichen Berechnungsansätze erklärt ein Sprecher des Bayerischen Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) wie folgt:
Beide Verfahren hätten einen unterschiedlichen Schwerpunkt, macht das LGL deutlich: Im ersten Fall gehe es um das Melde- und Übermittlungsgeschehen, im zweiten um das vermutliche Erkrankungsgeschehen.
In Bayern würden beide Berechnungen beobachtet und verwendet, was Anfang der Woche dort zu Verwirrung geführt hatte, so die LGL. So hatte Ministerpräsident Markus Söder von einem Wert von 0,57 gesprochen, woraufhin FDP-Fraktionschef Martin Hagen deutliche Maßnahmenlockerungen forderte. Zu diesem Zeitpunkt betrug die Reproduktonsrate nach der Berechnung des RKI jedoch noch 0,9. Die Krux dabei: Die genauen Rechenwege und Einflussfaktoren werden – etwa bei Pressekonferenzen – oft kaum kommuniziert.
Die meisten, wenn nicht gar alle anderen Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Berlin veröffentlichen nach eigenen Angaben stets die nach RKI-Methode ermittelten Zahlen.
Passend dazu veröffentlichen Statistikexperten heute eine »Unstatistik des Monats«. Damit wollen die Forscher auf mögliche Fehlschlüsse beim Interpretieren von Daten aufmerksam machen. Zu R schreiben sie, dass die Zahl der in die Ermittlung einbezogenen Neuerkrankungen stark schwanken kann. »Deshalb handelt es sich bei der Reproduktionszahl um eine Schätzung mit einem nicht unerheblichen Schätzfehler, der bei der Bewertung der aktuellen Lage immer berücksichtigt werden muss.« Ebenso müssten die Dunkelziffer bei den Infektionen und sich ändernde Testkapazitäten berücksichtigt werden.
Die Verfasser kommen zu dem Schluss: »So bedeutsam die Reproduktionszahl für die Einschätzung des Verlaufs der derzeitigen Pandemie auch ist, so vorsichtig sollte sie daher interpretiert werden.« Vor allem eigne sich R »aufgrund der nach wie vor mangelhaften Datengrundlage nicht als zentrale oder gar einzige Entscheidungsgrundlage für die schwierige Frage, ob die derzeitigen Kontaktbeschränkungen gelockert werden können oder nicht«.
Das alles kann verwirren. Nicht zuletzt deshalb, weil Hintergründe der jeweils zugrundeliegenden Berechnung in der Regel nicht bei der Bekanntgabe von Werten mitkommuniziert werden. Ähnlich wie bei vielen Corona-Daten – etwa wegen zeitverzögerter Datenübermittlung und Dunkelziffern – gilt auch hier: So lieb der eine oder andere R vielleicht gewonnen hat, sollte man auch diesen Wert mit Vorsicht genießen und sich klarmachen, dass es so einfach eben nicht ist, die aktuelle Infektionslage einzuschätzen und klar abzubilden.