Wie viel Kunststoff verträgt der Mensch? |
Ein Meer aus Plastik – das kann nicht gut für die Gesundheit des Menschen sein. / © Adobe Stock/ Sony Herdiana
Mikroplastik ist überall – als »mariner Schnee« auf dem Grund der Tiefsee, in den Weiten der Arktis, wo kaum ein Mensch jemals gewesen ist, im Trinkwasser und im Boden – und in unserem Körper. Forschende konnten in den vergangenen Jahren dank verbesserter Analysemethoden zeigen, dass sich diese Kleinstpartikel aus Plastik – dann sogenanntes Nanoplastik – auch in atherosklerotischen Plaques und im Gehirn finden.
Phthalate, Phenole, Dioxine, Parabene, Pestizide, per- oder polyfluorierte Alkylsubstanzen (PFAS): Die Liste dieser künstlich erzeugten Substanzen ist lang. Sie stecken als Weichmacher in Kunststoffverpackungen, verhindern das Anhaften des Spiegeleis in der Pfanne, imprägnieren die Oberflächen von Textilien und Möbeln, sorgen für leichte Verteilbarkeit der Bodylotion auf der Haut oder verhindern das Durchsickern des Kaffees durch den To-go-Becher. Sie finden auch in Feuerlöschschäumen, in der Medizintechnik etwa bei Dialyseschläuchen oder Herzklappen, in der Luftfahrt und dem Autobau Verwendung.
Selbst wer bewusst auf diese Produkte verzichtet, kann den schädlichen Chemikalien kaum vollständig entgehen, denn sie sind längst über die Nahrungskette, über Wasser, Boden und Luft allgegenwärtig. Es gibt unterschiedliche Schätzungen dazu, wie viel Kunststoff jeder Mensch auf diese Weise unfreiwillig aufnimmt. »Eine oft zitierte, weil anschauliche Zahl geht auf eine WWF-Studie aus dem Jahr 2019 zurück: Dort heißt es, ein Mensch nehme pro Woche rund 5 g Mikroplastik zu sich – was etwa dem Gewicht einer Kreditkarte entspricht. Damit hat man mal eine Dimension vor Augen«, sagt Professor Dr. Josef Köhrle, Seniorprofessor am Institut für Experimentelle Endokrinologie an der Charité – Universitätsmedizin Berlin, im Gespräch mit PTA-Forum.
»Mittlerweile haben wir mehr Plastik auf unserem Planeten als die gesamte tierische und menschliche Masse ausmacht«, veranschaulicht Köhrle. Die weltweite Plastikproduktion habe sich in den vergangenen 70 Jahren etwa 200-fach erhöht. Die Vereinten Nationen sprechen angesichts der steigenden Plastikflut mittlerweile von einer planetaren Krise. »Doch diese Plastikwelle ist nicht nur ein Umweltproblem, sondern auch eine erhebliche Gesundheitsgefahr: Hormonaktive Substanzen, die in Mikroplastik, Kosmetika und vielen anderen Produkten und Gegenständen des Alltags enthalten sind, können hormonelle Prozesse im Körper erheblich beeinträchtigen. Von den rund 100.000 weltweit verwendeten Chemikalien sind etwa 50 als endokrine Disruptoren klassifiziert und gehören damit zur gleichen Gefahrenklasse wie krebserregende, gentoxische und reproduktionstoxische Substanzen.«
Der Biochemiker stellt klar: »Verbesserte Messmethoden machen es möglich, verlässliche Werte von Mikro- und Nanoplastik in menschlichem und tierischem Gewebe zu bestimmen. Die Befunde etwa in menschlichen atherosklerotischen Plaques sind auffällig. Es ergeben sich Assoziationen – wohlgemerkt keine Ursache-Wirkungs-Beziehungen – zu erhöhten Entzündungswerten oder abweichenden Immunreaktionen, die aus endokrinologischer Sicht Anlass zur Sorge bereiten.« Besonders gesundheitsgefährdend dürften sogenannte »Cocktail-Effekte« sein, weil verschiedene Subtanzen auf den Menschen einwirken.
© PZ-Grafik/Stefan Spitzer
Endogene Disruptoren greifen auf der Ebene von Rezeptoren, Liganden oder intrazellulären Signalwegen an. Die Wirkmechanismen sind sehr komplex, weil es sich nicht um die natürlichen Liganden der Rezeptoren handelt und weil ihre Spezifität und Affinität sehr unterschiedlich sind. Dabei beeinflussen sie die Konzentration der körpereigenen Hormone, indem sie deren Produktion, Freisetzung, Transport oder Abbau modulieren. Neben Geschlechtshormonen können endogene Disruptoren weitere Hormone negativ beeinflussen, wie etwa die der Schilddrüse.
Das Hormon Trijodthyronin (T3) und das Prohormon Tetrajodthyronin (T4, L-Thyroxin) sind lipophil. T3 bindet intrazellulär an seinen Kernrezeptor. Der Hormon-Rezeptor-Komplex induziert/unterdrückt im Kern die Transkription von Genen der Effektorproteine der Schilddrüsenhormonwirkung. Ein Beispiel für ein hydrophiles Hormon ist Insulin. Dieses bindet an einen membranständigen Rezeptor und das Signal – nicht das Hormon – wird in der Zelle weitergeleitet. Auf diese Weise induziert Insulin beispielsweise die verstärkte Expression von Glucosetransportern auf Muskelzellen und steigert damit deren Aufnahme von Glucose.
In dieses fein austarierte System greifen die Disruptoren empfindlich ein. So wirken etwa Bisphenol A, Phthalate und polyfluorierte Substanzen als Rezeptoragonisten oder -antagonisten, verändern über Rückkopplungseffekte die Rezeptoraktivität oder die Anzahl der Rezeptoren auf den Zielzellen und greifen in die Signaltransduktion hormonempfindlicher Zellen ein. Perchlorat wiederum stört die Aufnahme von Jod in Schilddrüsenzellen und greift damit in die physiologische Schilddrüsenhormonsynthese ein.
Eine ganze Reihe von Tierstudien, In-vitro-Analysen, kleineren Kohortenstudien und – wenn auch nur einige wenige – epidemiologischen Studien deuten immer wieder auf Zusammenhänge zwischen der Exposition gegenüber endokrinen Disruptoren und dem Auftreten von Entwicklungsstörungen, einem frühen Einsetzen der Pubertät, Störungen der Spermienbildung und Reproduktion, vermehrtem Auftreten hormonabhängiger Tumoren wie Brustkrebs, Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes, aber auch neurologischen Erkrankungen wie Parkinson und Verhaltensauffälligkeiten hin.
Besonders fatal ist laut Köhrle die Belastung während der Schwangerschaft. Per- und polyfluorierte Verbindungen sowie andere langlebige organische Chemikalien, die gerne auch als »Ewigkeitschemikalien« bezeichnet werden, finden sich in hohen Konzentrationen im Fruchtwasser und in der Follikelflüssigkeit der Eierstöcke. »Ungeborene Kinder von Müttern mit hoher Disruptoren-Belastung baden förmlich in einem Mix aus Schadstoffen«, so der Experte der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE). »Die mütterliche Plazenta sowie das fötale Fettgewebe reichern manche dieser hormonaktiven Substanzen teils in hohen Konzentrationen an.« Das kann die Entwicklung des Fötus schwer beeinträchtigen, vor allem die Gehirnentwicklung. Kinder von Müttern, die in Schwangerschaft und Stillzeit hohen Konzentrationen an hormonaktiven Substanzen ausgesetzt waren, haben ein dreifach höheres Risiko für eine verzögerte Sprachentwicklung, teilt die DGE mit.