| Barbara Döring |
| 08.12.2025 10:00 Uhr |
Auch so manches Kind ohne Vorerkrankung muss wegen einer Grippeinfektion auf die Intensivstation. / © Adobe Stock/Monkey Business
Die Grippesaison startete in einigen Ländern der Nordhalbkugel in diesem Jahr ungewöhnlich früh, sodass die EU-Gesundheitsbehörde ECDC schon im November mahnte, mit der Grippeimpfung nicht zu warten. Einige Länder haben bereits Maßnahmen geplant, um eine Ausbreitung der Infektion zu verhindern, sagte Professor Dr. med. Florian Hoffmann, auf einer online-Pressekonferenz der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Er ist Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Klinikum Dritter Orden München-Nymphenburg.
Spanien habe bereits entschieden, in diesem Winter in Gesundheitseinrichtungen die Maskenpflicht einzuführen. »Influenza ist kein harmloses Schnüpfchen, sondern eine wirklich ernstzunehmende und zum Teil wirklich ganz, ganz dramatisch verlaufende Erkrankung«, betonte der DIVI-Präsident. Kinder seien davon genauso betroffen und trügen dazu bei, dass sich das Virus ausbreitet und aus den Kindertagesstätten in die Familien gebracht würde.
Auch bei Kindern könne die Krankheit schwere Verläufe nehmen, selbst wenn diese vorher völlig gesund gewesen seien, so der Pädiater. Die Grippe sei für alle eine gefährliche Erkrankung, die dazu führe, dass in den Wochen während des Peaks der Grippewelle das Gesundheitssystem personell ans Limit komme. Laut AOK-Fehlzeitenreport würden in diesen Wochen 10 bis 15 Prozent aller Menschen in Deutschland wegen respiratorischer Infekte ausfallen.
Die Impfung gegen RSV habe gezeigt, dass Prophylaxe helfen kann. Durch die Impfung gegen das RSV-Virus, das vor allem Babys und Kleinkinder schwer an der Lunge erkranken lässt, konnte die Häufigkeit der Erkrankungen drastisch reduziert werden und damit auch die Notwendigkeit, dass Kinder im Krankenhaus oder sogar auf der Intensivstation behandelt werden müssten. Das Ziel sei nicht, durch die Impfung jede Infektion, sondern schwere Verläufe zu verhindern, sodass Patienten nicht ins Krankenhaus oder auf die Intensivstation aufgenommen werden müssten.
Professor Dr. med. Christian Karagiannidis, Vorstandsmitglied der DIVI, stellte die Fallzahlen des vergangenen Winters vor. Allein zur Hauptzeit der Grippewelle von Januar bis Mai dieses Jahres wären mehr als 135.000 gesetzlich krankenversicherte Patientinnen und Patienten in Krankenhäusern behandelt worden. Darunter etwa 30.000 Kinder unter 18 Jahren, die meisten davon jünger als zwei Jahre.
Die Atemwege der jungen Patienten seien noch klein, sodass Kinder deutlich schneller Probleme bekämen. 500 der unter 18-jährigen Patienten mussten auf der Intensivstation behandelt werden, von den Erwachsenen mehr als 20.000. Etwa die Hälfte davon wurde beatmet. Die Gesamtsterblichkeit von Neugeborenen bis zum Greis betrug etwa sechs Prozent. »Je älter man wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit zu versterben«, sagte Karagiannidis, der das ARDS- und ECMO-Zentrum der Lungenklinik Köln-Merheim leitet.
Das zeige, wie unglaublich wichtig es sei, gerade im Erwachsenenalter schwere Verläufe bei der Grippe zu verhindern. »Wir müssen nicht jede Infektion verhindern. Aber jeder Patient, der nicht auf die Intensivstation aufgenommen werden muss, hat immer eine deutlich bessere Prognose«.
Typischerweise starte die Grippesaison zu Beginn des Jahres, erinnerte Dr. Ellen Heimberg, stellvertretende Sprecherin der DIVI-Sektion Pädiatrische Intensiv- und Notfallmedizin. Dass die Grippesaison in diesem Jahr in England und Spanien früher begonnen hätte, sei zumindest teilweise der neuen H3N2-Variante zuzuschreiben. Die Oberärztin der Interdisziplinären Pädiatrischen Intensivstation am Universitäts-Klinikum Tübingen präsentierte Daten einer eigenen Umfrage im Januar und Februar 2025.
Alle Intensivstationen in Deutschland, die pädiatrische Patienten versorgen, wurden angeschrieben, um Auskunft über die Zahl der versorgten Influenza-Patienten und den Verlauf der Grippeinfektionen zu erhalten. Knapp 30 Prozent der Intensivstationen beteiligten sich und meldeten insgesamt 181 Influenza-Patienten, 98 Prozent davon hatten keine Grippeimpfung.
62 Prozent der Patienten mussten wegen Atemversagen beatmet werden. Zudem hätte es sehr viele schwer verlaufende neurologische Erkrankungen im Zusammenhang mit Influenza gegeben, knapp 20 Prozent kamen wegen Kreislaufversagen und Sepsis als Folge der Infektion in die Klinik. 14 der 181 Patienten hatten ein Multiorganversagen, bei dem zusätzlich zur Lunge auch Gehirn, Nieren oder Leber Schaden genommen hatten.
In diesem Zusammenhang betonten die Experten, dass es bei einer Grippeinfektion durch die immunologische Reaktion des Körpers auch im Gehirn zu Entzündungsprozessen kommen könne, die mitunter bis zum Hirnödem und epileptischen Anfällen führten. Das Virus sei nicht nur ein Atemwegsvirus, sondern auch eines, das dem Gehirn gefährlich werden könnte.
Auch schwere Verlaufsformen einer ME/CFS, die in Zusammenhang mit Long-Covid ins Gespräch kamen, können nach einer Influenza-Erkrankung auftreten. Das zeige, auch wenn es nur einen kleinen Teil der Patienten betrifft, dass die Influenza eigentlich eine Systemerkrankung sei.
Als sehr beängstigend empfindet Heimberg, dass 35 Prozent der gemeldeten Grippepatienten keine Vorerkrankungen aufwiesen. Knapp ein Drittel mussten länger als sieben Tage auf der pädiatrischen Intensivstation behandelt werden. 18 der gemeldeten Kinder sind verstorben, darunter acht ohne Vorerkrankung. Gerechnet auf die 181 aufgenommen Kinder, ergäbe sich eine Sterberate von 10 Prozent. Angesichts der Tatsache, dass schwere Verläufe durch eine Impfung vermeidbar wären, seien das dramatische Zahlen, betonte die Kinderintensivmedizinerin.
Als Notfallmediziner wünsche man sich, solche schweren Verläufe zu verhindern, betonte Hoffmann. Neben der Weltgesundheitsorganisation WHO hätten auch einige europäische Länder bereits die Empfehlung ausgesprochen, alle Kinder ab sechs Monaten zu impfen. In Deutschland gibt es die Empfehlung bislang nur für chronisch Kranke ab sechs Monaten und für Über-60-Jährige sowie für im Gesundheitswesen Tätige. „Wir wissen, dass wir da besser werden müssen“, betonte der DIVI-Präsident. Deshalb fordert DIVI die Impfung für alle ab dem sechsten Lebensmonat.
Die klassischen, intramuskulär zu applizierenden Impfstoffe sind ab sechs Monaten zugelassen. Ein nasaler Impfstoff, der mit einem Nasenspray völlig schmerzfrei gegeben werden kann, ist für Kinder ab zwei Jahren verfügbar.
Nach der Pandemie sei eine gewisse Impfmüdigkeit eingetreten. Zudem sei vielen nicht bewusst, dass die Grippe so schwer krank machen kann, sagte Hoffmann. Im Hinblick auf die Befürchtung, dass die Grippewelle früher starten könnte und dass es zwei bis drei Wochen braucht, bis sich Antikörper gebildet haben, sei jetzt der optimale Zeitpunkt für eine Immunisierung.
Dass die Apotheken mittlerweile impfen dürften, sei ein sehr wichtiger Punkt. „Wir haben einen niederschwelligen Zugang zu der Impfung, und den sollten wir nutzen“, betonte Hoffmann. Jeder Einzelne, der durch die Impfung geschützt ist, sei einer weniger, der schwer erkranken könne. „Wir sollten allen Kindern und Erwachsenen diese Möglichkeit geben“. Es solle keine Impfpflicht, sondern eine Impfempfehlung der STIKO sein. Dann sei auch für Personen, die keiner Risikogruppe angehören, eine Finanzierung der Impfung gewährleistet, die bislang nur von einigen Krankenkassen übernommen würde.